Der obligatorische Neujahrstext

Handynotiz aus der Nacht des 01.01.2018:

Der unsichtbare Zeiger tickt
Und ich liege in deinem festen Griff
Der unsichtbare Zeiger sagt mir
Es wäre Zeit das zu spüren
Was der Bass des Liedes denunziert;
Die pathologischen Gedanken fühlen,
Ein Gruß an die Anomalie
Ein freundliches Gespräch
Entgegen der morbiden
Realität

Mein unbewusster Wunsch für das neue Jahr war die letzten 18 Jahre eigentlich immer der Gleiche: ein Leben wie im Roman, eine richtig runde Sache mit Drama, Wendepunkt und Katharsis zu durchleben.

Bei Tageslicht betrachtet, ist das kompletter Schwachsinn. Vorsätze sind kompletter Schwachsinn. Wortwörtlich, denn sie sind schwach. Was einen weiter bringt, sind Entscheidungen – und die kann man das ganze Jahr über treffen, sogar umsetzen. Klingt praktisch oder nicht?

In Wirklichkeit ist es auch unmöglich, ein Leben wie aus einer frei erfundenen Geschichte zu haben. Anfang, Spannungsbogen, Ende. Punkt.
Wie soll das gehen, wenn nicht einmal klar ist, ob der Tod das Ende, der Anfang oder eine schlichte Zwischenstation jedes Lebens ist?
Ein gutes Buch zu beenden ist Fluch und Segen zugleich. Man ist hin und weg, auf dieses Schmuckstück der Literatur gekommen zu sein, doch todunglücklich, dass es nicht mehr weiter geht.

Werfe ich einen Blick auf meinen Kalender, wird klar, dass ich meine Gedanken häufig sehr stark auf die Zukunft fokussiere. Oder besser gesagt, auf die nächsten großen Ereignisse. Ob es das besondere Treffen, der nächste Kurztrip oder einfach nur die Party am Samstag ist, in meinem Kopf entsteht ein Mandala aus Plänen, das
in langen Tagträumen ausgemalt wird.

Auch wenn es heißt, dass Vorfreude die beste Freude sei, engt es das Glück ein, sich auf diese zu beschränken. Ein stetiges „in die Zukunft schauen“ ist, als würde man ständig auf den Plot-Twist einer Geschichte warten. Dass er kommt, ist vollkommen klar. Doch das wie, wo und wann ist dann am Ende nie so, wie man es sich vorher ausgemalt hat.

Statt mir also einen Vorsatz zu machen, den ich Anfang März längst vergessen habe, treffe ich die Entscheidung, mein Augenmerk hin und wieder auf die kleinen Freuden des Alltags zu richten. Wahrscheinlich werde ich weiterhin gedankliche Mandalas ausmalen. Die Hauptsache ist, beim Aufwachen aus den Tagträumen zu realisieren, dass auch in der Zeit von Montag bis Freitag der ein oder andere unerwartete Plot-Twist steckt.

In diesem Sinne, frohes Neues!

Zeit für sich

Gestern Abend antwortete mir eine Freundin auf die Frage, wie es ihr denn gehe, mit einem Satz, in dem die Schlagworte „krank“, „anstrengend“ und „Lustlosikeit“ vorkamen. Abgesehen davon, dass sich mit diesen Worten die Mehrheit unserer first world problems hervorragend beschreiben lassen, hat mich das ganze auf einen Gedanken gebracht. Die besagte Person hatte noch dazu Fernweh der feinsten Art, doch natürlich kam einfach los reisen nicht in Frage. Miete, Arbeit und Verpflichtungen. All die Alltagsgeister, die nur darauf warten, überwältigt zu werden. Sobald man es geschafft hat, ist dann entweder keine Kraft oder keine Zeit mehr für andere Dinge übrig.
Am schlimmsten ist das ganze im Winter; wenn es beim Verlassen und Wiederbetreten des Hauses dunkel ist, einem die Hände abfrieren und einem der geschmolzene Schnee eiskalt den Rücken runterläuft. Dann kommt die Wintermüdigkeit, das dunkle Loch.

Wenn es also nicht möglich ist, einfach mal abzuhauen um ein bisschen Energie zu tanken, dann gibt es eine andere Lösung, eine Art Rehabilitions-Kompromiss: Zeit für sich.
Vor einiger Zeit oder genauer gesagt, seit ich mir meine Entschuldigungen selber schreiben kann, habe ich für mich herausgefunden, wie gut es tut, sich einfach mal einen Tag frei zu nehmen.
Es gibt immer diese Zeiten, bei denen man für sich selbst sagen kann, dass ein Fehlen an dieser Stelle für niemanden ein Verlust bedeuten würde. Wann diese sind, kann man ganz einfach mit sich selbst ausmachen. Falls das jetzt jemand falsch versteht: Das hier ist keine Ermunterung zum Schwänzen oder dazu, dem Alltag in anderer Weise den Rücken zu kehren, sondern lediglich die Aufforderung, neben dem ganzen Trubel und den Lichtern mal in sich selbst hinein zu spüren. Vielleicht, oder eher sehr wahrscheinlich, lernt man dann ganz essenzielle Dinge über sich.
Zum Beispiel, dass die ganze Ablenkung den eigentlichen Zustand der Unzufriedenheit überdeckt hat oder aber, dass man im Grunde sehr glücklich ist und nur ein paar Stunden für einen selbst nötig waren, um das zu realisieren.

An Tagen, an denen der Wecker morgens um sechs klingelt, es dunkel und kalt ist und du merkst wie die obligatorische Wintererkältung schon angekrochen kommt, um dich langsam zu packen, merkt man selten, wie man sich eigentlich fühlt. Das einzige Gefühl, was an diesem Punkt in Frage kommt, ist gewaltige Unlust. Es ist dann kein Wunder mehr, wenn sich eine kleine Winterdepression anmeldet…
Doch wenn man ausgeschlafen von dem blendenden Weiß der Außenwelt geweckt wird, eine gute Playlist anmacht und sich für die sonst so abgehetzte Routine sowie einen selbst Zeit nimmt, kann es sein, dass man realisiert, wie glücklich man ist – so abseits von den täglichen Leiden.
Wenn aber das Gegenteil der Fall ist und man merkt, dass der Schuh an einer anderen Stelle drückt, ist der richtige Zeitpunkt, das zu ändern – jetzt und hier, ohne Ausreden.

Nach der kleinen Pause, die ich mir genehmigt habe, freue ich mich sogar auf das mir bevorstehende Lernen, für ein diktatorisches Konstrukt namens Schule (Danke Heimkind). Ich freue mich darauf, weil es mich mit so vielen wunderbaren Menschen verbindet.

Manchmal ist nur ein klein wenig Abstand nötig um das zu kapieren. Und statt der Toskana, können es auch die eigenen vier Wände sein, in denen man das realisiert.

Kurz: Es passieren wunderbare Dinge, wenn man abwartet und Tee trinkt!

 

Gemälde: Gerhard Richter

Erste Male

Ich erinnere mich noch genau an das erste Mal,
an dem ich den Mond als dreidimensionalen Körper wahrgenommen habe.
Mein Alter betrug eine einstellige Zahl
und ich fühlte mich wie Galilei an einem bahnbrechenden Tage.

Ich erinnere mich noch genau an den warmen Sommertag,
an dem ich schwerelos im Ozean lag,
die Sinne durch erfrischende Klarheit gekühlt
und das erste Mal spürte, wie sich Freiheit anfühlt.

In mir spinnt die Erinnerung noch immer ihr Garn,
von dem Moment, an dem ich dich zum tausendsten Mal anschaute,
das von Fremden bestimmte Ideal in mir langsam abflaute
und ich zum ersten Mal unverhüllte Schönheit wahrnahm.

All diese kleinen Bruchteile unserer Existenz,
in denen es im Kopf einmal „Klick“ macht,
dem Film einen nicht sichtbaren Schnitt bracht
und ein neuer Takt das Gewohnheitslied abgrenzt.

Denn vielleicht ist unser Sein eine Melodie,
in der jede Erinnerung eine Note ist,
in der jedes erste Mal eine viertel Pause misst –
Nach der ein neuer Ton ohne Garantie,
ohne die Sicherheit der Einstimmigkeit,
in unser kleines Lied einsteigt.

Ich erinnere mich noch an all die ersten Küsse die kamen;
Von dem mit der Freundin zwischen Decke und Lachen
über die, die ihm wichtig, mir gleichgültig waren,
bis hin zu uns, die wir weder wussten was denken noch machen.

Ich spüre noch jetzt frostigen Wind auf nasser Haut,
der Blick in die Tiefe, das Herz pochte laut,
als ich das erste Mal in die gefühlte Unendlichkeit sprang,
die nach fünf Metern im eisigen Wasser ausklang.

Oder, als das erste Mal mein Fundament zusammenbrach;
Doch als ich merkte, dass sich Trümmer zu Bausteinen entfalten,
konnte ich schon bald mein Umfeld gestalten,
nach der Art, die meiner subjektiven Ansicht entsprach.

Nun meine Frage an dich,
eigentlich simpel und schlicht, lautet:
Wann hast du das letzte Mal
etwas zum ersten Mal
gemacht, gedacht, gefunden,
gefühlt oder dich um ein neues Thema gewunden?

Denn vielleicht ist unser Sein eine Melodie,
in der jede Erinnerung eine Note ist,
in der jedes erste Mal eine viertel Pause misst –
Nach der ein neuer Ton ohne Garantie,
ohne die Sicherheit der Einstimmigkeit,
in unser kleines Lied einsteigt.

Und ich habe Angst im Kreisverkehr nicht die Ausfahrt zu finden,
mich immer wieder um den selben Kreisel zu winden,
immer wieder und wieder und wieder im Kreis,
immer wieder und wieder der selbe Scheiß –

also starte ich einen Aufruf an mich
und an jeden der diese Kreiselangst teilt;
Nicht immer wieder und wieder die Runde zu drehen,
nicht im biederen Mieder bewegungslos stehen,
sondern vom Gewohnheitskreis, mal abgeseilt
zu neuen Richtungen aufzubrechen.

Ein schlauer Mensch sagte einmal,
dass du als Eigentümer deiner Selbst
nie vollkommene Ruhe in dir hältst,
doch es sehr wohl sein kann,
dass es die Unruhe ist, die dich dann
von innen heraus lebendig macht

Ich sehe vor mir all diese ersten Male,
die ich als Fantasien in mir trage,
die mir die Art von Unruhe geben,
die mich lebendig macht, nach der ich kann streben.

Vielleicht das erste Mal ein Risiko wagen,
im Winter im eiskalten Wasser baden,
eine noch nie eingestandene Wahrheit laut sagen
oder statt Märchen und Fabeln einfach mal blank zu ziehen.

Ich habe es noch nie gemacht ist keine Ausrede mehr.
Nein, es ist nur noch ein weiterer Grund
jetzt endlich damit anzufangen.
Wage einen physischen oder gedanklichen Sprung,
der deine Melodie ein klein wenig vieltöniger macht

Denn wenn jede Erinnerung eine Note ist,
ist vielleicht auch jedes erste Mal eine Viertelpause;
Nach der ein neuer Ton ohne Garantie –
ohne die Sicherheit der Einstimmigkeit
in unser kleines Lied einsteigt.

 

Kühlhaus Flensburg, 23.11.17

Foto: Leon Meschke