Hallo Welt, hier bin ich!
Auf der schwankenden Brücke zwischen Kommunikation und Narzissmus
Wieso drücken wir uns aus?
Diese Frage zieht sich in einem endlosen Faden durch meinen Kopf, als ich um zwei Uhr nachts meinen Instagram-Feed hinunterscrolle, ohne wirklich den Inhalt der Bilder wahrzunehmen – falls es überhaupt einen gibt.
Jedes aufgezeichnete Dokument der menschlichen Geschichte belegt das Verlangen nach Ausdruck; durch Sprache, durch Kunst und durch Mode. Doch warum?
Als ich Freunde zu diesem Thema befragte, bekam ich, abgesehen von den klassischen Faktoren wie der Kommunikation und dem Mitteilungsbedürfnis, ein paar interessante Antworten. Alles, was man durch sein Tun Ausdrückt, ist ein Ventil der Gefühle, „um nicht im grauen Pott der Masse zu versinken“, um sich selbst von innen nach außen „umzukrempeln“ und um seine Identität festzulegen.
Diese Gründe sind logisch wie natürlich. Über den natürlichen Ausdrucksformen hinweg steht jedoch das Verlangen nach Aufmerksamkeit, das vermehrt in unser Grundwasser sickert, und welches wir dann verpackt in Plastikflaschen von Nestlé zu uns nehmen.
Wir sind die Generation der Amateur-Blogger. Wenn also ein Freund aus dem Urlaub zurückkommt, und gerade ansetzt, eine richtig gute Geschichte herauszuhauen, denke ich mir so: „Hmm, das hast du schon mal digital gehört“. Natürlich lache ich trotzdem mit, immerhin ist es das erste Mal, dass mir die Geschichte Face à Face erzählt wird. Dennoch wäre dieser Moment exklusiv irgendwie wertvoller gewesen…
Also: Warum wollen wir unseren Mitmenschen so unbedingt zeigen, was wir heute so gegessen und mit wem wir etwas unternommen haben? Und vor allem: Warum ist es zu einem Ziel geworden, eine so große digitale Anhängerschaft wie nur möglich damit zu erreichen?
Geht das nicht weit über ein „gesundes“ Mitteilungsbedürfnis hinaus – so in Richtung eines narzisstischen Defizits?
Ich beantworte diese Fragen mit einem äußerst entschlossenem „Jein“.
Ja, wir leben in einer durch und durch narzisstischen Gesellschaft. Und ja, der Drang nach Anerkennung ist in analoger wie auch in digitaler Hinsicht (in einer beängstigend steilen Kurve) gestiegen. Dennoch steckt in jeder Gegenwart auch eine Adaption der Vergangenheit.
Bereits 30.000 – 100.00 Jahre v. u. Z. entstanden die Felsenmalereien, die heute in die Kunstepoche des Eiszeitrealismus eingeordnet werden. In einer primitiv-realistischen Weise ritzten oder malten die Menschen die Gegenstände aus ihrer Umgebung in Felsen; sie hatten also schon damals das Verlangen, sich Auszudrücken und etwas zu erschaffen.
Schaut man sich heute die Betonbauten der Städte an, sieht man die Adaption – Graffiti soweit das Auge reicht. Einzig die Motive haben sich Verändert, der Grund des Erschaffens bleibt der Gleiche.
Genauso ist es mit dem Verlangen, seine eigene Gestalt festzuhalten. So ist das Selfie nichts als ein Update des gemalten Portraits.
Es scheint also etwas in jedem von uns zu stecken. Ein Impuls, der schreit: „Los! Steh auf und zeig deiner Umwelt, wer du bist! Benutze deine Mittel!“
Und diese Mittel sind die Fähigkeit (oder manchmal auch Plage) des eigenständigen Denkens und der Umsetzung durch den Körper.
Diese Impulse zeigen sich in unzähligen Ausdrucksmöglichkeiten. Und egal, welcher davon man sich bedient: Es kommt weniger auf den Inhalt oder den Empfänger der Nachricht an, als auf das Gefühl, welches es beim Absender auslöst.
Kurz gesagt: jeder Text, jedes Bild und jedes Selfie ist Höhlenmalerei – zumindest im übertragenden Sinne.
Es bringt also nichts, nach einem erweiterten Sinn für unser Verlangen nach Ausdruck zu suchen. Die Antwort ist einfach. Der Ausdruck – in welcher Form auch immer – erfolgt aufgrund einer „inneren Notwendigkeit“, wie es der Künstler Mark Rothko so schön sagte.
„Wenn der Grund nicht subjektiv wäre, dann gäbe es keinen. Objektiv gesehen, haben wir eine bedeutungslose Größe.“
Oder wie der wunderbare, leidende Werther am 28. August 1771 niederschrieb:
„…die Blüten des Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele gehen vorüber, ohne eine Spur hinter sich zu lassen, wie wenige setzen Frucht an, und wie wenige dieser Früchte werden reif! Und doch sind deren noch genug da…“