…doch ich rufe nicht zurück, weil –
Wieso, weiß ich auch nicht genau. Eigentlich habe ich schon immer auf diesen Anruf gewartet, doch genau jetzt, genau in dem Moment, in dem es Ernst werden könnte, bin ich erstarrt, traue mich nicht einmal mehr, den kleinen Finger zu rühren.
Wie es zu diesem Anruf kam ist ganz einfach; jeder Mensch, der die Marke der Volljährigkeit überschritten hat, oder sich in Sichtweise eben dieser befindet, macht sich Gedanken über seine jetzige Situation und über die Richtung, in die er sich gerne Bewegen würde. Von „ich weiß nicht was ich morgen essen will“ bis „wird unsere Generation noch eine sichere Rente beziehen?“, spielt alles in dieses grüblerische Veränderungswesen hinein.
Viele scheinen das eher als etwas Positives wahrzunehmen, entweder, weil sie zufrieden sind, so wie es ist, oder weil bei ihnen alles von alleine in die richtige Richtung zu laufen scheint. Bewundernswert und zugleich die Antipathie anregend, denn Normalsterblichen geht es eben nicht so. Normalsterbliche grübeln, besonders über Veränderungen.
An einem sonnigen Nachmittag saß ich also in diesem Café. Es war zu warm für die Jacke die ich trug, doch meine Füße froren in den neuen Sandalen. Das Buch, das ich las, handelte davon, sich von Dingen zu lösen, die einen daran hindern, genau das zu tun, was man will. Es deprimierte mich, dass es als so einfach beschrieben wurde, alles Toxische aus seinem Alltag zu verbannen und nur noch frische Mangos auf karibischen Inseln zu verschlingen. Ich legte das Buch beiseite um zu grübeln. Ich grübelte über die Zukunft und malte mir verschiedene Möglichkeiten eines Alltags, wie er mir Mitte 40 widerfahren könnte, aus. Natürlich gab es da die idealistische Vorstellung von dem modern eingerichteten Haus mit Glasfronten, einem Teich im Garten und der eigenen Sauna. Doch andere Visionen waren voller Unzufriedenheit, Mittelmäßigkeit oder Burnouts. Diese Visionen sorgten nicht nur für ein unerträglich flaues Gefühl im Magen, sondern auch dafür, dass ich zu zweifeln begann.
Wenn man sich im Stadium der Volljährigkeit befindet, denkt man noch, man hätte genug Zeit, die Dinge zu verändern. Jahrelanges Pauken ist die Bedingung für eine qualifizierte Arbeitsstelle. Der an den Kräften und der Freizeit zehrende Nebenjob wird als Notwendigkeit für ein gewisses Maß an Wohlstand gesehen und auch die freien Wochenenden oder der Urlaub ändern nichts an der Tatsache, dass der Alltag eine Übergangssituation ist. Da bleibt wenig Freiraum für etwas Neues, etwas, wovor man sich fürchtet, weil es die Dinge verändern könnte. Doch man glaubt trotzdem daran, unheimlich viele Möglichkeiten zu haben und alles erreichen zu können, was man will. Später natürlich, jetzt besitzt ja gerade xyz Priorität. Es fühlt sich an, als würde man auf etwas Großes hinarbeiten. Wenn dies und jenes fertig ist, steige ich eine Treppenstufe zum Tempel des „Geschafft Habens“ herauf. Und jeder Abschluss, jedes erworbene Vitamin Beziehung lässt einen fälschlicherweise denken, man wäre einen Schritt vorangekommen.
Irgendwann stellt man fest, dass sich jede Treppenstufe gleich anfühlt. Nicht höher, nicht besser, alles bleibt eine Zwischenstation. Und je mehr man darauf hinarbeitet, desto weniger verändert sich in Wirklichkeit. Der Tempel oberhalb der Treppenstufe ist kein Ziel, sondern der irdische Tod.
Und als ich da mit frierenden Füßen und flauen Magen im Café saß, wurde mir klar, dass man niemals richtig ankommt. Wenn ich mit 45 Jahren einen kurzen Augenblick an meinem Teich sitze, dann kann es sich schnell so anfühlen, doch ehe ich mich versehe, bin ich geschieden oder mir wird gekündigt. Dann ist es wieder da, das Gefühl auf etwas hinarbeiten zu müssen, um vor der Unzufriedenheit zu fliehen. Der Unterschied ist nur, dass ich nicht mehr in der Einstellung verfestigt sein werde, vor einem Meer der Möglichkeiten zu stehen. Wenn ich meinen Zenit überschritten habe und erneut an einen Punkt gelange, vor dem ich mich bereits in diesem Hinterhofcafé fürchtete-…
Der Grund, wieso ich überhaupt über all das nachdachte, war ganz einfach der, dass ich unzufrieden war. Diese Unzufriedenheit über die Gegenwart sorgte für die nasskalten Gedanken über die Zukunft und für die Sehnsucht nach einer Veränderung.
Mein Handy klingelte, es war eine unbekannte Nummer. Nicht ganz unbekannt, denn vor einiger Zeit traute ich mich, meinen Zeigefinger nach der Suche einer Neuerung aus meinem Kokon zu strecken. Diese Geste sollte einen verzweifelten Versuch darstellen, etwas zu verändern. Ich wurde gesehen und man wollte meine ganze Hand nehmen. Die Veränderung rief mich vermutlich an, doch ich traute mich nicht, ihr meine Hand zu reichen.
Als das Handy aufhörte zu klingeln, stellte ich bedauerlicherweise fest, dass die Veränderung keine Nachricht hinterlassen hatte. Ich weiß nicht, ob sie es wirklich war, geschweige denn, ob ich sie wirklich wollte. Doch ich traute mich nicht, zurückzurufen.
Ich verbrachte noch ein paar reglose Minuten damit mich zu fragen, wann ich das nächste Mal angerufen werden würde. Schließlich stand ich auf, um zu bezahlen. Beim Gehen stellte ich fest, dass der Himmel mittlerweile von reinweißen Wolken überzogen war. ‚Ist ja auch in Ordnung so‘, dachte ich beim Überqueren der Straße aus Kopfsteinpflaster und war plötzlich froh, den Anruf nicht angenommen zu haben.
-Bild: @cbhoyo