Unbetitelt

Die Türen der S-Bahn begannen schon, sich zu schließen, als Jakob Salemer mit einer geschickten Bewegung in das Innere des Wagons glitt. Außer Atem setzte er sich auf einen der freien Plätze und stellte seine Leinwände vor sich ab. Mit einem elektrisierenden Quietschen der Räder fuhr die Bahn los. Er liebte genau diesen Moment, wenn der leichte Impuls alles gleichmäßig beschleunigend in Bewegung setzt. Die meisten Menschen, die Jakob kannte, taten immer wieder ihre Abneigung für die Öffentlichen Verkehrsmittel kund. Häufig war diesem Thema sogar eine ganze Diskussion zugeschrieben worden. Dann sprachen Kommilitonen von ihm über den Dreck, die vielen Menschen und die Gebundenheit, die sie hassten. Lars hielt dann häufig eine Zigarette in der Hand und fing an, überschwänglich zu gestikulieren, wenn es irgendwann um die Zukunft ging, wo er und Marie sich ein Haus kaufen wollten, und welches Auto sie fahren würden. Er sagte das immer so überzeugend, dass man meinen konnte, er wollte nicht den anderen, sondern mehr sich selbst beweisen, dass alles rosig wird. Und vor allem, dass rosig gut ist und nicht bedeutet, langweilig zu werden und kaum noch Sex zu haben. In diesen Momenten schaltete Jakob häufig ab und ließ seine Gedanken überall umherschweifen. Überall, außer bei Lars und seinen Bausparverträgen. Manchmal waren sie bei Emi und dem, was sie gesagt, er aber nicht verstanden hatte. Doch vor allen Dingen bei seinen Bildern; bei Ideen, die Hoffnung und zugleich die Angst, zu versagen in ihm hervorriefen. Dann war alles, was er empfand, Form, Farbe und Eindruck.

Nächster Halt: Landungsbrücken.

Bei der Ausfahrt aus dem Untergrund wurde er an all den temporären Dingen, die das Leben zu bieten hatte, vorbeigeführt. Vorbei an Graffitis, die ihre besten Tage bereits erlebt hatten, und bei denen der Künstler vermutlich dachte, etwas für die Ewigkeit zu schaffen. Jakob sah, dass der Acryllack verblasst und mit einer Staubschicht bedeckt war. An der Hochschule wurde immer wieder gesagt, wer Kunst schaffe, der leiste einen Beitrag zur Ewigkeit. Doch wenn man genau darüber nachdachte, dann war diese Aussage beschränkt. Dabei sollte doch genau die Kunst eine Materie sein, welche nur so beschränkt ist, wie der Mensch, der sie schafft. Im besten Fall also völlig ohne Schranken. Er senkte den Blick und sah auf die blaue Ikea Tüte, in der sich seine Leinwände befanden. Das Malen vermittelte ihm das Gefühl, etwas Bleibendes zu erschaffen und so der Vergänglichkeit entgegen zu wirken. Auch wenn er ganz genau wusste, dass es ein leidbringender Fanatismus ist, sich an diese Dinge zu halten, hatte es etwas Tröstliches.

Eigentlich wollte er sein Leben niemals der „brotlosen Kunst“ widmen, wie es seine Eltern häufig ironisch sagten, jedoch nicht im Geringsten ironisch meinten. Er war auf ein angesehenes Internat gegangen, welches es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Schüler mit Ehrgeiz und Materialismus zu füttern. Bei ihm hatte diese Mischung erst sehr gut gefruchtet, mit neunzehn hatte er das angesehene International Baccalaureate gemacht und zusammen mit seinem Vater einen Karriereplan für dessen Firma geschmiedet. Seine Vorliebe für das Zeichnen war in den Augen aller stets ein beachtetes, wenn auch unwichtiges Talent gewesen. Bedeutung wurde nur den schulischen Leistungen, seinen wohlgeformten Gesichtszügen und seinen Aktivitäten im Segelverein beigemessen. Der stolze Blick seiner Eltern war in seine Erinnerung eingebrannt. Das war gut, denn so schnell würde er diesen nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Ihm wurde nach seinem Abschluss eine Reise auf die Philippinen geschenkt, die er mit einem strahlenden Lächeln und seiner noch strahlenderen Freundin antrat. Eines Nachts wachte er verstört und durchgeschwitzt auf. Als er zur Seite blickte, sah er das blaue Satinkleid, das perfekt um ihren zarten Körper drapiert war. Der Regen prallte in Strömen gegen das Fenster. Flüchtig warf er sich ein T-Shirt über, lief dann aus dem Zimmer, an den Aufzügen vorbei und die Treppe hinunter. Ohne den erstaunten Blick des Portiers zu bemerken, lief er gerade hinaus in den strömenden Regen. Er lief immer und immer weiter, bis er irgendwann außerhalb der für Touristen aufgeschönten Gegend war. Die ganze Nacht schweifte er herum und dachte nach. Dachte nach über ein luxuriöses null-acht-fünfzehn Leben, über Kreativität und über Geld. Jakob hatte nie ein Problem mit dem Geld an sich. Ganz im Gegenteil. Auch wenn viele in der Uni das Geld als den Ursprung aller gesellschaftlichen Probleme sahen, hatte er nie etwas gegen die Möglichkeit gehabt, alles wann und vor allem so zu machen, wie er es wollte. Was ihn störte, waren die Cocktailpartys, die Oberflächlichkeiten und die Erwartungen an jeden Schritt, den man tat.
Als es dann langsam hell wurde, hatte er bereits den Entschluss gefasst, sein Leben umzukrempeln, selbst zu entscheiden.

Nächster Halt: Jungfernstieg

Gegenüber von ihm nahm eine junge Frau Platz – attraktiv, aber ohne einen besonderen Reiz in ihm auszulösen. Sie lächelte ihn an, doch er wollte sie nicht ermutigen, ihn anzusprechen und schaute deshalb wieder aus dem Fenster. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst, nicht nur, weil er gut aussah, sondern auch, weil er Distanziertheit ausstrahlte. Sein Handy vibrierte, und als er einen Blick auf das Display warf, zeichneten sich darauf Emilys Worte ab:
„Hoffe du hattest einen schönen Tag, wenn du möchtest, kannst du ihn bei mir ausklingen lassen. Der Chianti steht schon bereit. Lass mich wissen ob du kommst.“

Lange schaute er auf die Nachricht. Nur Emi schaffte es, mit so viel Bedeutung unverbindlich zu klingen. Sie hielten sich stets eine einkalkulierte Unklarheit aufrecht, obwohl beide wussten, dass es da keine anderen gab. Sie hatten sich vor fast zwei Jahren in der Galerie kennengelernt, in der sie arbeitete. Dort hatten sie sich lange unterhalten und er war fasziniert von ihrer Intelligenz, die sie stets so sarkastisch zum Ausdruck brachte. Trotzdem ging er wieder, ohne sie nach der Nummer zu fragen. Er Fragte Frauen nie nach ihren Nummern, da er wusste, dass er ihnen auf lange Zeit nicht reichte und sie verlassen würde, bevor sie das selbst bemerken konnten. Er hatte sich also vorgenommen, keine Frauen zu verletzen, was übersetzt hieß, keine längere Bindung einzugehen. Emi vergaß er jedoch nicht so schnell. Über eine Woche lang dachte er ständig an sie und entschloss sich schließlich dazu, noch einmal in die Galerie zu gehen. Nach ihrem ersten Treffen stellte sich heraus, dass auch ihre Absichten nicht auf eine Beziehung hinausliefen. Als er sie fragte, was sie suche, waren ihre Worte: Zuneigung und ein Kontakt für die Notfallnummer.

Genau so kam es dann auch. Als er nach seinem Autounfall im Krankenhaus aufwachte, war es sein einziger Wunsch gewesen, in ihr kleines aber markantes Gesicht zu schauen und ihren Blick auf sich ruhen zu wissen. Ihre hellbraunen Augen waren stets in einen Ausdruck von gefühlvoller Besorgnis getaucht. Blicke besaßen sowieso das Monopol in der Kommunikation ihrer Gefühle. Als sie dann wirklich kam und ihn mit gefühlvoller Besorgnis anschaute, war er sich sicher, sie zu lieben. Es gab viele Momente, in denen er glaubte, verliebt zu sein. Wenn sie den Abend in Emis Wohnung verbrachten, das Licht gedimmt war und sie ihn zum tanzen aufforderte. Dann schritten sie ineinander verschlungen durch das Zimmer. Zu seiner Musik, die er vor dem gemeinsamen Kochen angemacht hatte. Er wusste, wie sehr sie seine Musik mochte, denn immer wieder hatte sie betont, wie erstaunlich ähnlich ihr Geschmack war. Manchmal gingen sie dann noch zusammen baden, redeten ein bisschen, doch schwiegen die meiste Zeit.

Er war froh über ihr Bild von Zuneigung, doch er fragte sich von Zeit zu Zeit, ob sie es nur so aufrechterhielt, weil sie ihn liebte und wusste, dass er nicht in der Lage war, sich mehr zu öffnen. Dann erinnerte er sich an seinen Vorsatz und hatte Angst, sie zu verletzten. Es dauerte dann länger, bis er antwortete und sein Blick wurde leerer, wenn sie sich sahen. Teilweise sahen sie sich dann bis zu zwei Monate nicht und redeten nicht miteinander. Anfangs war sie enttäuscht und wollte ihn über die Ursache des Geschehens zur Rede stellen, doch natürlich durchschaute sie dieses Verhalten, dass sich in dieser Form häufig wiederholte. Sie gab ihm den Freiraum zum Zweifeln, vermutlich weil sie selber die Zeit zum Zweifeln brauchte. In diesen Pausen hasste er sich, sein Atelier wurde dann zu einer Art Gefängnis, in das er sich freiwillig sperrte. Die Vision in seinem Kopf zu realisieren, wurde sein Ziel, doch die Verwirklichung glich einem Albtraum, den er nächtelang durcharbeitete. Wenn es schließlich irgendwann heller und er ruhiger wurde, fuhr er nach Hause um richtig auszuschlafen. Egal wie lange er in seiner Welt war, er kam immer wieder zurück zu Emily; fuhr, ohne sich anzukündigen, einfach zu ihr und klopfte an. Manchmal machte sie auf und manchmal musste er warten, bis sie nach Hause kam. Wenn sie ihn dann ansah, vergaßen sie beide, dass sie zweifeln wollten. In genau diesen Momenten sah sie ihn an, mit einem Blick von gefühlvoller Besorgnis und Verständnis. Da wusste er, dass er sie brauchte.

Nächster Halt: Wilhelmsburg

Wenn er die Umgebung um sich herum betrachtete, sah er sie Überall; Verlässlichkeit. Er sah es an den vorbeigehenden Menschen. An den Blicken, die sie austauschten, und an den Worten, die sie wechselten. Obwohl sie überall aufzufinden war, zweifelte er daran, so etwas wie Verlässlichkeit jemals zu besitzen.

Als er auf sein Handy sah, um nachzuschauen, wie spät es war, stand da noch immer die Nachricht von Emi. Unbeantwortet.

Die Bahn bremste ab, um an der nahenden Station zu halten. Die Goldene Stunde tauchte alles in ein warmes Licht und blendete durch die Scheiben. Plötzlich durchzog ein leichter Stoß den Wagon. Obwohl Störungen auf den Gleisen nichts Ungewöhnliches waren, hatte er ein merkwürdiges Gefühl. An den Gesichtern der anderen ließ sich ablesen, dass er nicht der einzige war. Jakob saß im ersten Wagen. Die Bahn hielt an, obwohl sie erst zur Hälfte in den Bahnhof eingefahren war. Ein gedämpfter Schrei war zu hören, dann passierte kurz gar nichts. Selbst die zwei lachenden Mädchen waren still. Schließlich ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher, die gedämpfte Anweisungen gab. Die Türen der, sich schon am Steg befindenden, Wagen sollten sich öffnen, die restlichen Gäste kurz darauf durch Personal geholt werden. Sein Herz klopfte als er ausstieg, die Menschenmenge wurde von den Uniformträgern in die Richtung des Ausganges geleitet und versperrte den Weg zum Gleis. Er wusste, dass er sich nicht umdrehen sollte, aber er hätte es gerne getan. Diese ständige Sensationslust.

Er dachte an Emi und daran, dass er jetzt zu ihr wollte. Dieses Mal nicht in Unklarheit. Vielleicht opferte das Schicksal eine verzweifelte Seele für die Erlösung einer anderen. Als er über die Brücke aus dem Bahnhof ging, nahm er nicht seinen Bus, der bereits dort stand. Er stieg in eines der Taxis und beantwortete die Nachricht, die für ihn nun Verlässlichkeit geworden war.

 

Abbildung: ARoS Aarhus Art Museum

 

Was man mit Geld kaufen kann – Kurzgeschichte einer Namenlosen

„Geld ist mir nicht so wichtig.“, sagt Julia, während sie gelassen eine Zigarette raucht und mit ihrem gesamten Auftreten den Begriff der Adoleszenz verkörpert. „Im Grunde ist alles Wichtige im Leben unkäuflich!“, ergänzt sie mit einem zufriedenen Blick. Sie nimmt einen weiteren Zug und ich frage mich, wie viel Cent sie da gerade in ihrer Lunge verdampfen lässt. Mit ihrem Spruch fühlt sie sich nun ziemlich schlau; ich verkneife mir den Kommentar dass dieser Satz in der Zeit zwischen Sokrates und Tumblr wahrscheinlich unter den drei am häufigsten zitierten Weisheiten aufzufinden ist. Julia wohnt noch bei ihren Eltern und in ihrer Handyhülle ist ein Fünfziger eingeklemmt, den sie vorhin in die Hand gedrückt bekommen hat. Wie ich sie kenne, wird dieser noch heute für Getränke draufgehen.

Später am Abend denke ich darüber nach, was man für Geld alles kaufen kann, und welche Relevanz Gekauftes überhaupt hat. Ich lasse mich in mein Bett fallen und glaube, dass Julia Unrecht hat und dass die wichtigen Dinge im Leben sehr wohl käuflich sein können. Jetzt gerade zum Beispiel liege ich viel lieber unter meiner weichen Decke, für die ich erst letzte Woche einen neuen Blümchen-Überzug bei Ikea gekauft habe. Er hat dort 19,99 Euro gekostet, was nicht mal der Hälfte von Julias Getränkebestellungen entspricht. Ich komme zu dem Schluss, dass ich im Moment definitiv lieber unter meiner neuen Bettwäsche liege, als mit ihr und den anderen über den neuen Freund von der Freundin einer Freundin zu reden.

Da meine Lippen heute viel zu rot waren, als dass ich mein Bier selber hätte bezahlen müssen, hatte mich der Abend nichts gekostet. Wichtiger wurde er deswegen nicht. Zumindest nicht wichtiger als der Duft von frisch gewaschener Bettwäsche. Das Letzte, das ich merke, ist das leise Aufkeimen von Glück, was mich durchfährt, weil der Weichspüler die Decke so schön duften lässt.

Am nächsten Tag schlafe ich bis in den Mittag hinein. Meine Mitbewohnerin ist schon weg und ich drehe meinen „Mix der Woche“ auf volle Lautstärke. Ich werfe einen Blick auf mein Handy, um zu schauen, ob der gutaussehende Kerl von letzter Woche zurückgerufen hat. Hat er nicht, aber das ist nicht weiter schlimm, da er sowieso ein narzisstisches Arschloch ist. Während ich meine billigen Aufbackbrötchen aufschneide, beginnt ein unfassbar guter Song, den ich noch nie zuvor gehört habe. Ich liebe Algorithmen. Firmen gebe ich mit Vergnügen die Informationen meiner digitalen Identität, wenn sie mir im Gegenzug diese fantastischen Playlists machen. Spotify kennt mich verdammt gut, besser, als die Männer, mit den ich ausgehe, und vielleicht auch besser als Julia.

Sie würde jetzt sagen, dass es oberflächlich sei, mit Typen auszugehen, für die man nichts empfindet, und die nur eine attraktive Abendbegleitung darstellen. Sie findet sowieso, dass alles, was ich tue, oberflächlich ist. Direkt sagt sie das natürlich nicht, sie macht sich eher Sorgen, glaube ich. Wenn ich sage ‚Ich bin glücklich‘, runzelt sie nur mit der Stirn. Oberflächlichkeit und Glück passen nicht zusammen, hat sie mal gesagt. Ich glaube sie versteht einfach nicht, dass es Menschen gibt, die nicht ständig verkünden müssen, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Mit ihren kurzgeschnittenen Haaren, dem Nasenpiercing und den braunen Dr. Martens, die zu ihrer Augenfarbe passen, fühlt sie sich wie der alternativste Mensch im Land. Sie strahlt das einfach aus, ist die coole in der Runde, die immer einen Ratschlag auf den Lippen hat.

In unserer Gruppe tranken bis vor kurzem noch alle Wein, weil sie sich damit so schrecklich erwachsen fühlten. Irgendwann entschied Julia, dass Bier eigentlich viel entspannter wäre. Seitdem tadelt sie mich jedes mal für meine Art, Weißwein zu bestellen. Es sei ja so spießig auch noch jedes Mal nach extra Eiswürfeln zu fragen. An einem Abend sagte sie, dass ich bestimmt immer nur Wein trinke, weil mir die Form der Gläser gefalle. Sie lachte, als hätte sie einen Witz gemacht, ich hingegen war einfach nur erstaunt darüber, wie Recht sie eigentlich damit hatte. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre es ein Vergehen, nach Schönheit zu streben und sich mit Ästhetik umgeben zu wollen. Die Wahrheit ist oft unansehnlich. Sie hat Falten, stinkt nach Abfall oder bedeutet Krankheit, Krieg und Armut. Eigentlich will niemand die Wahrheit hören oder sehen. Vielleicht die eigene, subjektive, aber nicht die faltige, stinkende oder kranke. Wenn es nach der unansehnlichen Wahrheit geht, dann sind Julia und ich zum Beispiel keine Freunde. Brächte uns der gemeinsame Kreis nicht immer wieder Abends zusammen, gäbe es auch nicht viel, über das man noch reden könnte. Und ich bin mir sicher, dass es vielen so geht. Manchmal frage ich mich, wie viele Umarmungen wirklich aufrichtig sind.

Das Schöne, die Ästhetik ist meine Wahrheit. Geld ist dabei nicht alles, aber vieles, was als Hilfsmittel dient, kann ich mir dafür kaufen. Produkte, mit denen ich mir die Lippen rot male, Kleider, die meine Figur betonen, oder Schmuck, der beachtet werden will. Mit diesen Dingen kaufe ich gleichzeitig das Bild, das sich andere von mir machen. Dieses Bild hat eine eigene Währung, die gezielt eingesetzt werden kann. Mit einem Lächeln kann ich mir dann Vertrauen und Sympathie kaufen. Mit einem kalten Blick wiederum vielleicht Verlangen auslösen. Diese entstehenden Emotionen lösen dann eine Kette von Affinitäten und Abhängigkeiten aus. Es ist wie ein Spiel, in dem es um Angebot und Nachfrage geht; und wer nicht weiß, dass es eines ist, der hat schon verloren.

Vor ein paar Jahren sprach ich einmal mit meiner Tante über dieses Thema. Auch wenn ich sie nur selten sehe, habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu ihr. Sie arbeitet viel und strahlt eine Selbstständigkeit aus, die mich immer schon fasziniert hat; ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester, meiner Mutter. Ich weiß nicht mehr genau, was ich sie fragte. Vielleicht, ob sie mir zustimmt bei der These mit dem Spiel. Sie schaute mich verwirrt an und ich meine, mich an einen Hauch von Entsetzen erinnern zu können. Ich dachte damals, sie hätte mich nicht richtig verstanden. Heute weiß ich, dass selbst sie diese Ansicht hart fand; zumindest aus dem Mund eines vierzehnjährigen Mädchens. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass man über manche Dinge einfach nicht redet, selbst wenn man sie ganz bewusst tut. Einfach, weil man sich sicher sein kann, dass andere es entweder nicht verstehen können oder es schlichtweg nicht wollen. Weil es zu anders ist. Aber nicht die Art von „anders“ von der Julia ständig redet, sondern die Art, die man selbst für avantgardistisch, andere jedoch einfach für kaputt halten. Manchmal bewundere ich Leute wie Julia, die leicht und unbekümmert durchs Leben zu gehen scheinen. Andere Male bemitleide ich sie einfach nur dafür.

Es wird dunkel und mir wird kalt, da ich mein Fenster fast immer geöffnet lasse, und wir schon Mitte Oktober haben. Menschen gehen an meinem Zimmer vorbei. Ihr Lachen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich schaue nach draußen, doch statt der Leute sehe ich nur meine Gestalt, die sich im Fenster spiegelt. Wenn ich zu viel nachdenke, bekomme ich manchmal Angst. Angst davor, dass meine Gehirnkapazität ausgeschöpft ist – jetzt, wo ich erwachsen bin. Dass ich meine klügsten Einfälle vielleicht schon gehabt habe und es einfach keine Steigerung mehr gibt. Als würde vor mir eine undurchdringliche Betonmauer stehen. Dann fühle ich mich so, wie ich mich jetzt fühle, und höre die anderen Leute draußen Lachen. Dieses Lachen versetzt mir einen Stich, weil ich alleine vor dieser Mauer stehe, die mich selbst spiegelt.

Andere Male stehe ich draußen, im Zwielicht einer Straßenlaterne. Vor mir steht ein schönes Haus mit Fenstern, die zum Boden reichen und einen großzügigen Einblick ins Innere gewähren. Mitten an der Wand hängt dann ein riesiges abstraktes Gemälde, das jemand irgendwann einmal für viel Geld gekauft hat. Und ich verliebe mich in das Bild, das in diesem schönen Haus hängt, wo jedes Möbelstück direkt aus einem Katalog stammen könnte. Auf dem Holztisch stehen benutzte Weingläser. Diese ganze harmonische Szene prägt sich in meinen Kopf ein. Ich atme warme Luft aus, die sich sichtbar mit der kalten vermischt. Das Lachen kann man nicht kaufen, denke ich. Dieses Bild jedoch schon. In diesem Haus und mit dem Gefühl, das es vermittelt – das ist käuflich.

Als ich schon fast schlafe, höre ich Schritte vor der Tür. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss und ich erkenne die helle Stimme meiner Mitbewohnerin, die zu einer mir unbekannten Stimme spricht. Sie klingt rau und etwas leiser. Die beiden kichern und gehen dann in die Küche. Jemand öffnet den Kühlschrank und schließt ihn wieder. Zwei Bierflaschen stoßen aneinander und dann ertönt wieder ein Kichern. Für ein paar Sekunden ist es leise und ich bin mir sicher, dass die Stille für einen Kuss steht. Und obwohl ich den Kuss weder sehen, hören oder schmecken kann, weiß ich, dass er echt ist. Diese kurze Stille, dieser stumme Kuss ist ein Stückchen Wahrheit. Aber nicht die faltige, stinkende oder kranke, sondern eine neue, schöne Wahrheit. Eine, die nicht käuflich ist.

Ich denke an das schöne Haus und wünsche mir diesen stillen, unkäuflichen Kuss – direkt vor diesem abstrakten Gemälde, in das ich mich verliebt habe.